Realgymnasium Rämibühl Zürich

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Rückblick: 20. Erzählnacht des Realgymnasiums

RG-Literaturwettbewerb: Alles, was Recht ist

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Insgesamt 30 Schülerinnen und Schüler des Realgymnasiums hatten Kurzgeschichten zum Thema "Alles, was Recht ist" für die diesjährige Erzählnacht und den 20. Wettbewerb um den RG-Literaturpreis eingereicht. Alle Texte wurden am Freitagabend, 8. November 2019, auf den Leseinseln im zweiten Stock des Realgymnasiums einem zahlreich erschienenen Publikum vorgetragen. Während den Pausen – in denen die Jury über die Rangverteilung beriet – sorgten die von Schülerinnen der Klasse 4c betreute Bar sowie Musik von Lucas Münger (Klasse 5b) für gute Stimmung.

Die Wahl fiel der Jury nicht leicht, denn die Texte waren sehr unterschiedlich, der Zugang zum Thema immer wieder neu. Jeder Text wies seine ganz eigenen Stärken auf! Vor der Siegerehrung las der Autor Heinz Helle – er amtete auch als Mitglied der Jury – Texte aus seinem Roman "Die Überwindung der Schwerkraft". Ein stimmiger Abschluss eines gelungenen Abends!

Anlässlich des 20. Wettbewerbs um den Literaturpreis des Realgymnasiums wurden folgende Preise verliehen:

Hauptpreis: Dora Dumitrescu, 5a

Publikumspreis: Anna Vankova, 3i

Kategorie 1:
1. Rang: Tim von Felten, 3b
2. Rang: Terence Schmid, 3i
3. Rang: Anna Vankova, 3i

Kategorie 2:
1. Rang: Claudiadele Polinari, 4i
2. Rang: Fritzi König, 5a
3. Rang: Cyrill Dankwardt, 5b

Gewinnertexte Erzählnacht:

Hauptpreis:
Dora Dumitrescu: Die Bühne

Ruhende, dunkle, fast schon dickflüssige Stille. Ein sicheres Vakuum, geborgene Unsichtbarkeit. Dann, weit vorne, das Licht. Erwartungsvolle Spannung breitet sich im Zuschauerraum aus, das Stück beginnt. Ich sinke noch tiefer auf meinen Platz, geniesse das Gefühl, die Kontrolle und Verantwortung an die Schauspieler abgeben zu können. Ich kann sein, ohne zu beeinflussen, beeinflusst wird ohnehin nichts mehr, alles ist schon festgelegt. Wir alle, die hier sitzen, können urteilen oder alles über uns hinwegspülen lassen. Es ist kein Spiel, an dem wir teilnehmen. Deshalb sind wir gerne hier.

Die Schauspielerin tritt auf die Bühne, stellt sich als Anna vor. Noch immer sitze ich auf meinem Platz, nicht Teil des Geschehens und doch beeinflusst das Geschehen einen grossen Teil meiner Emotionen. Mein Brustkorb zieht sich zusammen, ich höre die Frau neben mir einen leisen Laut des Mitleids ausstossen. Hinter mir höre ich Geflüster, weiter vorne schnäuzt sich jemand die Nase.

Auf der Bühne verzweifelt Anna immer mehr. Sie wird enttäuscht, verletzt und niemand tut etwas, um ihr zu helfen. Ich fühle das Bedürfnis aufzustehen und sie hier rauszuholen, aber ich sage mir, dass das alles nicht echt ist. Ich sage mir, dass ich nur in einem Theater sitze, dass eigentlich niemand verletzt wird. Es sind nur Schauspieler, oder? Hinter den Kulissen tritt ein junger Mann mit grüner Basketballmütze namens Brian hervor. Er beginnt Anna zu beschimpfen. Anna weint, es weint auch die Schauspielerin. Sie zuckt zurück, als er beginnt auf sie einzuschlagen. Immer mehr Schauspieler kommen auf die Bühne und treten und kneifen und beschimpfen sie. Blut beginnt zu fliessen.

"Wie machen sie das nur? Es sieht so echt aus", flüstert der Junge zu meiner Rechten. Inzwischen ertönt von der Bühne nur noch Schmerzensgeschrei, Anna bettelt, dass sie aufhören. In meinen Fingern kribbelt es, eine Gänsehaut überzieht meinen ganzen Körper. Ich zittere, ich weine unkontrolliert. Ich will mir sagen, dass es nicht real ist. Ich mache die Augen zu, presse mir die Hände auf die Ohren, zähle die Sekunden.

Eins. Zwei. Drei. Vier. Ich öffne meine Augen einen winzigen Spalt breit und sehe wie die meisten Zuschauer sich weggedreht haben, miteinander reden, sich aneinander festhalten. Sie schauen nicht länger hin und übertönen das Geschrei. Wir reden über nichts, schreien, lachen in wilder Hysterie, um nicht zu sehen, nicht zu hören, nicht zu fühlen. Die Frau neben mir hat dunkelrot lackierte Fingernägel, mein Kopf sagt mir, an ihren Fingern klebt Blut. Der Mann vor mir hat ein Tattoo am Hals, ich glaube, würgende Finger zu sehen. Wir beteuern wie echt, wie schrecklich das doch ist und wie schlimm, dass wir nicht helfen können, weil wir doch im Dunkeln sitzen. Die Handlung geschieht auf der Bühne, sie wird von den Schauspielern diktiert, wir dürfen uns nicht einmischen, denn sonst verlieren wir die Distanz zum Geschehen. Doch eigentlich wollen wir uns auch nicht einmischen, wir wollen nicht, dass es etwas mit uns zu tun hat, nein, das soll es nicht. Wir sagen, dass es langsam zu weit geht, aber es kann nicht unsere Pflicht sein, einzugreifen. Wir diskutieren und urteilen, reden und beschweren uns.

Ich sehe es in ihrem Gesicht, lange bevor sie es tut.
Sie ist elf, vielleicht zwölf Jahre alt, ihr Gesicht vor Schmerz verzerrt. Doch sie redet nicht. Sie schaut hin. Sie weint. Sie presst ihre Hände vor das Gesicht. Auch sie sitzt im Dunkeln. Ihre Muskeln spannen sich an und ich weiss unbewusst, was geschehen wird. «Hört sofort auf!», schreit sie. Sie steht auf ihrem Stuhl, als der Scheinwerfer über ihr angeht und ihre ganze Gestalt beleuchtet. Alles ist still. Eingefroren ist der Schrecken auf meinem Gesicht und eingefroren ist die Handlung auf der Bühne. Ich starre, wir alle starren, der ganze Raum starrt. Plötzlich geht das Licht im Saal an. Verwirrtes Murmeln breitet sich aus, schwillt zu einem Summen an. Ich drehe mich um, will die Frau neben mir fragen, ob die Reaktion des Mädchens wohl dazugehört hat. Als meine Augen jedoch den Sitz erreichen, gefriert mir das Blut in den Adern. Neben mir im Sitz hängt Annas schlaffer Körper. Quälend langsam wandern meine Augen zur Bühne. Doch ich erblicke nichts als Leere und Dunkelheit, während der Zuschauersaal zur hell erleuchteten Bühne geworden ist. Und das Licht blendet mich.

Publikumspreis:
Anna Vankova: Ich wott in Zoo

Ich wott in Zoo. Ich bin müed. Ich han kei Luscht meh. Ich bin trurig. Ich mag eifach nüm. Ich han kei Geld. Die neui Sitzordnig gfallt mer nöd. Ich bruch Ferie. Mini LEGO-Figur isch weg. Ich bin obdachlos. Ich cheg Mathi nöd. Mini Eltere reged uf. Ich han nüt zum esse. Mamiii, ich wott in Zoo. Ich bechum z wenig Taschegeld. Ich verdien z wenig. Ich bin gstresst. Liebi isch nöd ewig. Ich weiss nöd, was ich spöter mal werde wett. Ich han zwenig Chleider. Ich wird alt. Min neue Boss isch Scheisse. Ich find kein Job. Ich han mini Eltere nie kenneglernt. Ich wott immerno in Zoo. Ich han scho öpis vor. Mir isch schlecht. Ich muss no so vill mache. Ich wird usglacht. Min Crush liebt mich nöd zrugg. Ich bin im Minus. Ich bin z fett. Mini Oma isch gstorbe. Ich han zvill Prüefige. Ich bin nöd zfride mit mim Job. Papi, chömmer bitte im Zoo de Baby-Elefant go ahluege? Ich lig jedi Nacht im Bett und hüle, bis ich ihpenne. Mami wott mer keis Nintendo chaufe. Ich muss no Znacht choche. Ich. Wott. In. Zoo. Ich han zwenig Ziit. Ich bin zlang am Handy. Ich bechum nöd gnueg Schlaf. Min Vater het mich nöd gern. Mis Zimmer isch zchli. Bitte, chömmer in Zoo? Min Sohn isch im Spital. Ich döf mini Haar nöd färbe. Ich dörf s neue iPhone nöd ha. Ich wird dihei gschlage. Mini Chind hassed sich gegesiitig. Ich han kei Kollege. Ich wird Provi. Ich wott mich scheide lah. Ich muss no Ufzgi mache. Ich wird bald ah Chrebs sterbe. Ich wott en Hund. Ich wird gmobbt. Ich find mini Husschlüssel nöd. Niemert liebt mich. Ich wott in Zoo.

Chind, vo dene di ganzi Welt fascht zämmegheit, will sie ihri LEGO Figur nöd finde chönd. Die verstönd nöd, wieso mier jetzt nöd nach ihne sueched. Chind, wo no nie e LEGO Figur gseh hend. Chind, wo ihri Eltere nie gseh hend. Meitli mit eme Thek, wo sie für di erschti Klass becho het und zu pink und chindisch findet. Anderi, wo vo somene schöne Thek numme träumed. Und vo de Schuel. Chind, wo wend solang ufblibe, wie ihri Eltere. Anderi würed am liebschte schlafe. Oder es gmüetlichs Bett ha. Vill Chind münd vo ihrere Eltere dezuebracht werde, mit ihne id Berge go wandere. Anderi reised extrem lang id Schwiz, um d Alpe bestige zchönne. Anderi wäred so froh, wenn sie chänted wandere. Es paar 12-Jährigi i de Schwiz, unfassbar ufgregt weg de Gymiprüefig und all die Angscht, dass sie sie nöd bestönd. Einigi wüssed nöd was e Gymiprüefig isch. Anderi 12-Jährigi münd i de Schuel lerne, was me mache muess, wenn en Amokläufer id Schuel chunt. Anderi chönd nöd id Schuel, will sie uf enere Müllhalde Sache sueched, wo sie verchaufe chönt, um sich Esse chaufe zchönne. Anderi münd öpis anders schaffe. Vill Gymi-Schüeler, wo sich beklaged über de Schuelstress, für de sie sich freiwillig gmolde hend. Villi wäred so froh, im Gymi zsi. Villi, wo alles geh würed für so e gueti Usbildig. Vill Meitli findets nöd so lässig, wenn sie ihri Täg hend. Villi, wo nöd so gern über Monatsbluetige redet. Anderi wüssed nöd was das isch. Es paar hend die nötige Hygieneartikel nöd. Es paar trinked Alk, zum «cool» si. Anderi macheds, um de stressigi Alltag zvergässe. Anderi sind abhängig (worde). Vill striitet mit ihrne Eltere. Manchi wäred froh, hättet sie Eltere, mit dene sie striite chönted. Es paar hend kei Ahnig, was sie mal werde wennd. Die einte wäred froh gsi, hetted sie das selber chönne wähle. Recht vill, wo mit ihrem Job oder ihrem Boss unzfride sind. Gwüssi würed gern en Job finde. Mehreri sind gstresst weg ihrem Job. Anderi münd mehreri Jobs ha, um gnueg zverdiene. Vill Problem wege Liebi. Bi de einte antwortet ihre Crush nöd uf d Nachrichte. Bi de andere liebt ihre Crush sie nöd zrug. Die andere werded (vo ihrem Crush) nöd zrugg gliebt. Die andere händ Angscht zsäge, wen sie liebed. Anderi wennd sich scheide lah. Widerum anderi döfed sich nöd hürate. Vill Mensche wäred froh, wenn ihres einzige Problem wär, dass d Eltere sie ufreged. Zum Biispil Mensche, wo a Durscht und Hunger lidet. Oder Mensche, wo um ihres Läbe fürchte münd, numme will sie öper liebet. Oder Mensche, wo im Chrieg läbed. Mensche, wo keis dihei hend, will ihres imene Hurrikan zerstört worde isch. Eltere, vo dene s Chind i de Schuel erschosse worde isch. Chind, wo geg ihre Wille schaffe müend.

Diskriminierig. Obdachlosigkeit.
Misogynie. Ableismus. Homophobie. Xenophobie. Chinderarbet.
Transphobie. Biphobie. Depression. Suizid. Sexismus. Rassismus. Genozid. Hungersnot.
Strit. Armuet. Chrieg.
Sind eusi «Problem» immerno Problem?
Ich wott in Zoo.


Sieger Kategorie I (1.-3. Klasse):

Tim von Felten: Du kriegst dann noch ein Eis auf dem Heimweg

10:56
Hallo, Sofia Steinemann von der Johann & Söhne Agentur.
Ahh, guten Tag Frau Walder. Sie rufen an wegen der Spendenaktion, richtig?
Ja ja, das kann ich gut verstehen, kein Problem, wir können den Termin verschieben.
Eine halbe Stunde später ist mir recht. Ich bin gerade eh in der Bank und habe noch eine Sitzung, das wäre ohnehin knapp geworden.
Ja, die Unterlagen schicke ich dann sobald ich im Büro bin.
Unglaublich! Schon wieder so ein Penner.
Nein, ich meine nicht sie, hier liegt jemand.
Halt in der Bank, im Raum mit den Bankomaten.
Nein, ich kann dem jetzt nicht helfen, für so was hab ich keine Zeit.
Nein, ich lass den einfach hier. Der soll doch seinen Rausch ausschlafen.
Ich hab jetzt wirklich keine Zeit für so etwas.
Gut, wir sehen uns um halb fünf. Ich muss jetzt auflegen.

11:07
Alte, mach jetzt eifach.
Nei lömer ihn.
Nimm’s doch eifach, de macht eh nüt. De cheggts doch nöd, de isch hert bsoffe.
Aber was, wenn’s Kameras het?
Da het’s safe kei Kameras.
Oder es chunt eine vo de Bank oder so.
Tue jetzt nöd so. Nimm eifach s’Portemonnaie, denn verpisse mer eus.
Eh, ich weiss nöd.
Du muesch ja nume s’Geld neh.
Easy, ich mach’s, aber denn haue mers.

11:24
Mark, kannst du mir schnell einen Lappen bringen?
Mach ich.
Ich putze den Boden und du machst den Rest, okay?
Ist gut, ich hol schnell den Putzwagen.
Warte mal, da liegt jemand.
Das ist sicher ein Penner, die sind oft hier.
Ich ruf schnell den Filialleiter an.
Warte! Lass das doch, ich will nicht wieder auf den Typen warten, so sind wir um zwölf noch hier.
Sollen wir ihn einfach liegen lassen oder was?
Ja, die können ja nicht von uns erwarten, dass wir uns auch noch um solche Leute kümmern.
Meinst du nicht, wir sollten trotzdem etwas tun?
Nein! Wir putzen einfach und lassen den Typen liegen. Für so was werden wir ja schliesslich nicht bezahlt.

11:39
Mama! Mama, da liegt jemand!
Lisa, lass ihn und bleib bei mir!
Ist er tot?
Nein, sicher nicht. Der Mann ist einfach müde und hat sich hingelegt. Man sieht ja sogar, wie er atmet.
Ich frag ihn mal, was los ist, Mama.
Nein Schatz, komm zurück, lass den Mann einfach sein.
Aber was, wenn’s ihm nicht gut geht?
Das ist nicht unser Problem Schatz. Ich hab das Geld gleich, dann können wir gehen.
Aber Mama …
Komm her Schatz, ich hab schon immer gesagt, du sollst nicht mit fremden Männern reden.
Aber, der sieht doch ganz lieb aus.
Man weiss nie.
Warum ist der überhaupt hier?
Ich weiss auch nicht Schatz. Der hat wahrscheinlich kein Zuhause, darum schläft er hier.
Wir könnten ihn ja einfach fragen.
Nein Lisa, die Putzleute, die vorher hier waren, haben ja auch nichts gemacht.
Aber Mama …
Komm Lisa wir gehen jetzt! Du kriegst dann noch ein Eis auf dem Heimweg.

19:30
Guten Abend meine Damen und Herren, ich begrüsse sie zur Hauptausgabe der Tagesschau. Wir haben folgende Themen für Sie:
Toter Mann im Bankgebäude: Heute wurde in einer UBS-Filiale in Zürich die Leiche eines Rentners gefunden.
Die Grünen Parteien auf dem Vormarsch: Nach dem grossen Sieg bei den National¬ratswahlen, zeigt eine Umfrage, dass die Öko-Parteien auch bei den Ständerats¬wahlen massiv zulegen werden.
Erdogan nicht mehr aufzuhalten: Die türkische Armee führt ihre Offensive gegen die Kurden in Syrien fort.
Und morgen gibt es Sonne im Unterland, bei milden 19 Grad.

Zürich: In einer UBS-Filiale am Sihlquai wurde heute am frühen Nachmittag ein Mann tot aufgefunden. Der 83-jährige Rentner, der die Bank kurz vor elf Uhr betrat, stürzte beim Geld beziehen und verlor daraufhin das Bewusstsein. Später starb er an einer Schädel-Hirn Verletzung. Der Leiter der Rettungskräfte vermutet, dass der Mann bei früherem Eingreifen überlebt hätte. Die Behörden suchen nach Zeugen.

Siegerin Kategorie 2 (4.-6. Klasse):
Claudiadele Polinari: Stromausfall

Scharen eiliger Menschen füllen den grossen, runden Platz.
Jeder von ihnen hat ein bestimmtes Ziel vor den Augen, einen Ort, den sie erreichen müssen. Ich stehe inmitten dieses Wirbels.
Die Menschen laufen an mir vorbei. Ich stehe und sie laufen. Ich werde nirgends erwartet, ich habe kein Ziel.
Ich blicke an mir herunter, ich trage bunte Kleider. Bunt, Adjektiv, farbenfroh. Meine Mama hat sie mir gekauft.
Mutti, sieh mich an, wie meine bunten Kleider hervorstechen! Sieh mich an!
Wie eine Mohnblume in einem Kornfeld, so würde meine Mama sagen.
Meine Mama, sie ist schön. Sie lächelt immer.
Wir laufen Hand in Hand zur Schule, sie schaut mich an und lächelt. Es ist mein erster Schultag, ich drücke ihre Hand ganz fest. Mein rosa Kleid flattert leicht in der Sommerbrise, meine Füße sind in weichen, lilafarbenen Schuhen eingepackt.
Ihre Hand in meiner, ich bin glücklich. Glücklich, Adjektiv, fröhlich.
Ihr Lächeln erstarrt plötzlich, vor uns steht ein Junge. Er ist anders als ich. Meine Mama schaut ihn an, sie sieht … traurig aus. Der Junge schaut mich an, ich winke ihm zu, aber er reagiert nicht.
Ich bin verwirrt. Mehrere Kinder haben sich um ihn gesammelt. Sie schauen mich mit großen Augen an.
Sie sind anders als ich. Oder bin ich etwa anders als sie?

Ich weiss jetzt, wieso sie traurig ist. Meine Mama. Sie ist traurig, weil ich anders bin. Anders, Adjektiv, verschieden. Ja, ich bin anders.
Würde sie mir nur eine Chance geben, könnte ich ihr beweisen, dass ich gut genug bin.
Ich bin nicht das Mädchen, das sie sich jeden Abend vor dem Schlafen gewünscht hat.
Ich habe sie enttäuscht.
Ich will es ihr zeigen. Es ist wert, für mich zu kämpfen.
Ich kann ihr die Liebe geben, die sie verdient. Ich kann ihr die Welt zeigen, wie ich sie sehe. Ich habe einen Zweck, den ich zu erfüllen beabsichtige.
Ich brauche nur die Gelegenheit dazu.
In der Schule habe ich in einem Buch was entdeckt. Ich weiss jetzt, was ich werden will: Astronomin.
Ich will durch das kleine Loch des Teleskops schauen und mich in einer neuen Welt befinden. In einer Welt, wo ich das werden kann, was ich will.
Auf dieser Welt meinen sie, ich hätte keinen Zweck. Zweck, Nomen, Bestimmung. Ich habe eine.

Ich liebe meine Mama. Obwohl sie sich entschieden hat, kann ich sie nicht hassen. Ich kann ihr nicht die volle Schuld geben. Sie hatte Angst. Angst, Nomen, Furcht.
Menschen haben Angst vor dem, was anders, ungewöhnlich, unbekannt ist. Sie fürchten sich davor, sich mit dem Unbekannten auseinanderzusetzen und dadurch selber als anders betrachtet zu werden.
Ist das gerechtfertigt?
Könnte das Unbekannte sie vernichten, sodass sie es zuerst vernichten müssen?
Meine Mama hatte nicht den Mut. Mut, Nomen, Tapferkeit.
Den Mut, mir eine Chance zu geben.
Sie hat eine Entscheidung für mich getroffen.

Mit welchem Recht?

Ich sitze vor dem Fernseher.
Auf dem Bildschirm sehe ich mein Leben abspielen. Leben, Nomen, Dasein.
Meine runzligen, alten Hände umklammern die zarten Hände meiner Enkelin, während ich sie zur Schule begleite. Sie winkt mir zu und verschwindet hinter einer Tür, ich lächle. Meine Kinder gehen auf die Universität. Ich bin so stolz auf sie. Sie sind wieder klein, in der Schule malen sie ein Bild von unserer Familie. Ich sehe so aus wie sie. Ich bin anders, aber ich bin glücklich. Wir bauen einen Schneemann. Weiss, so sieht der Schnee aus. Reis wird bei meiner Hochzeit geworfen. Ich treffe einen Mann am Strand, ich verliebe mich. Ich besuche meine Eltern, wir feiern. Ich kriege eine Promotion, die harte Arbeit hat sich gelohnt. Ich sitze an einem Bewerbungsgespräch, ich bin hoffnungsvoll. Ich suche eine Arbeit. Schulabschluss, meine Mutti ist so stolz auf mich. Erster Schultag, ich merke, dass ich anders bin. Glückliche Kindheit, keine Sorgen.
Meine Geburt.
Ein kleines Baby in den Armen seiner Mutti. Es fühlt sich geborgen, geschützt und geliebt. Es hat vieles vor. Ehrgeizige Pläne.
Plötzlich wird der Bildschirm schwarz. Als hätte jemand den Strom gezogen.
Es fällt mir gerade ein: Ich kann mich nicht an meine Geburt erinnern.
Alles, wonach ich mich sehne, was ich mir wünsche und träume, ist unerreichbar.
Ich kann mich nicht daran erinnern. Denn ich wurde nie geboren.
Der Grund für die Abtreibung: Down-Syndrom