Realgymnasium Rämibühl Zürich

Erz%C3%A4hlnacht

Weihnachten in Corona-Zeiten: "Leise rieselt der Schnee" von Dora Dumitrescu (6a)

Kurzgeschichte

Erz%C3%A4hlnacht

Die abgestandene Wohnzimmerluft haucht mich an, meine Sicht beschlägt und die milchigen Scheiben klirren vor Schadenfreude oder vielleicht durch den eisigen Wind, der mir durch die Eingangstüre folgt. Ich ziehe energisch die Tür hinter mir ins Schloss, zucke zusammen, lasse die Brille fallen und den Schlüssel im Schloss stecken. Einsame Prinzessin im Turm der bösen Hexe, mit Vornamen Corona, würde der Romantiker sagen.
Meine eigenen vier Wände starren vor Leere, während der Computer mich zusammengerollt schlafend erwartet, träge ein Auge öffnet und wieder zufallen lässt, nachdem ich den Finger vom Anschaltknopf nehme. Gut zuredend streiche ich ihm über den glänzenden Rücken und frage mich, ob sich das frisch shampoonierte und frisierte Fell der Nachbarschaftskatzen wohl auch so glatt anfühlt. Die Welt ist grau und still, meine Wohnung dunkel, mit einer enormen Kraftanstrengung strecke ich dem Rentier unter der Nummer 24 die Zunge heraus, es hängt nur noch an einer Ecke, ich habe es noch immer nicht geschafft, den zweiten Nagel wieder einzuschlagen.

Notiz, 24.12.2014:
Vielleicht braucht es die rot-golden lackierten Fingernägel meiner wimpernklimpernden Cousine und die Servietten mit den fetten, hellblauen Schneemännern darauf, um den Moment genug auffällig und überdimensioniert aufzublasen. Ein Luftballon, der sich im nahtlosen Gefüge der Zeit mit einem energischen Hüftschwung Raum verschafft. Ach, schliesslich soll man unbedingt merken, dass es kein gewöhnlicher Tag ist.
Vielleicht braucht es auch den mit Glöckchen-Bimmeln gesättigten Weihnachtsgesang schlicht und einfach, um das Kneifen überstrapazierter Stimmen zu neutralisieren. Das Gerenne kleiner, bunt bestrumpfter Füsse, das Klatschen, wenn Patschhändchen Schokoladenschmieren an Fensterscheiben hinterlassen.

Ich stopfe mir frustriert eine Praline in den Mund, Skype ist träge, mein Computer seufzt angestrengt vor sich hin, wirft sich nervös hin und her, schnurrt angespannt, ohne das Programm öffnen zu können. Dieser fette Kater kriegt seinen schweren Hängebauch nicht hoch und ich locke und flüstere, tätschle und schimpfe vergeblich.

Notiz, 24.12.2015:
«Weisst du Schätzchen, du musst dir keine Sorgen machen, dass du keinen Mann findest, im schlimmsten Fall lernst du eben den Reissverschluss des Abendkleides selbst zuzuziehen, auch wenn du dir dabei einen Krampf holst, ich habe es schliesslich auch geschafft.» Grosstante Lisbeth zwinkert mir zu und legt mir ein weiteres Stück Torte auf den Teller. Dann bin ich ja beruhigt.

Ich schliesse Katerchen an die Nahrungsquelle an und siehe da, plötzlich kommt Leben in seine trägen Pfoten, wie er auf den Napf zuspringt, ist ja nicht zu glauben!

Notiz, 24.12.2016:
All die überfressenen Mägen ächzen im Takt mit dem rhythmischen Aufreissen von Sternschnuppen-Geschenkpapier. «Mensch, Omi, bist du mit dem Salzstreuer über dem Kochtopf ausgerutscht?» Wie immer ein charmanter Engel, mein kleiner Bruder.

Der liebe Grossonkel rutscht auf einem geräderten Bürostuhl ins Bild, bemerkt nicht, dass er sich bereits im Anruf befindet, kratzt sich am Bauch und kippt sich das gefüllte Schnapsgläschen mit einem entschiedenen Schnippen aus dem Handgelenk in den Rachen. Ich stelle die Schluckgeräusche und den zufriedenen Seufzer auf stumm und hole mir selbst ein Glas Wein, ein Schälchen Erdnüsse, der Vorhang geht auf und ich lehne mich mit einem resignierten Ausatmen zurück, um die familiär-landschaftliche Kulisse zu bewundern.

Notiz, 24.12.2017:
Es erstreckt sich schneeloser Asphalt vor der Haustüre, spuckt den Passanten das Wort «Klimaerwärmung» als Weihnachtsgruss, zusammen mit einem Schwall frühlingshafter Temperaturen ins Gesicht. Wie heisst das noch gleich, Schneeflöckchen oder Schneeglöckchen?

Ein neongelber Schnellflocken-Aufkleber ist auf die Plastik-Verpackung gepappt, um anzumerken, dass der Weihnachtsausverkauf auch vor der Esswarenabteilung keinen Halt macht. Als ich zu meinem zerknautschten Sandwich als Hauptgericht übergehe, verschluckt sich mein Computer entsetzt und spuckt mich in hohem Bogen aus dem Familienanruf, ungeniert die animierten Ausschweifungen meines Vaters unterbrechend, die Essensflecken auf seinem Pullover sprechen Bände, der Bauch ragt schon fast ins Bild.

Notiz, 24.12.2018:
In den Fressmeilen und Einkaufshäusern starren Verkäufer um die Wette, deren Lächeln das Einzige ist, was zur eisigen Jahreszeit passt. Ihre Augen sind röter als die blinkenden Rudolfnasen. Ich: Stolze Soldatin der Weihnachts-Shopping-Armee, selbstlos im Einsatz an vorderster Front. Für die Liebsten natürlich nur das Beste.

Niemand hat meine hektisch am Computer herumdrückende Abwesenheit bemerkt und ich halte dem zur Faulheit dressierten Haustier die Augen zu, bis ich es schaffe, die Kamera wieder auszustellen. Ich bin kein Aquarientier oder Schaufenstermensch, mir ist lieber, sie stellen sich nur vor, dass ich auf der anderen Seite des gläsernen Bildschirmes stehe und ihre roten angetrunkenen Nasen anhauche.

Notiz, 24.12.2019:
Auf den Weihnachtsmärkten regnet es Glühwein und es hagelt gebrannte Mandeln, da droht Gefahr auf der Eisfläche im Zuckerguss kleben zu bleiben. Tja, elegante Ausrede für mich.

Meine Augen haften an meinem kleinen Bruder, der zum ersten Mal seine Freundin ins Bild zieht, sie kichert aufgeregt, winkt schüchtern und dann ist es um mich geschehen. Ich stelle Kamera und Ton an, beginne «Oh du fröhliche» zu schmettern, höre wie zeitversetzt Tante und Onkel, der ältere Cousin, Schwesterherz und Grossväterchen mitgrölen, elektronisch verzerrt lässt unser gemeinsamer Walgesang fast den Putz von den Wänden rieseln, der Nachbarshund jault, sie lachen, ich lache, wir lachen.

Notiz, 24.12.2020:
Und leise rieselt wie Schnee die Freud’ in mein Herz zurück.