Was liest das RG? „Radio Sarajevo“ von Tijan Sila

Im 2023 erschienenen Roman „Radio Sarajevo“ schildert der Autor Tijan Sila seine eindrücklichen Erlebnisse während des Krieges in Sarajevo, der im April 1992 beginnt, als er erst zehn Jahre alt ist. Das Werk bietet keine umfassende historische Darstellung der Belagerung und verzichtet darauf, die damaligen Täter explizit anzuklagen.

Worum geht es?

Die Geschichte stellt eine komprimierte Zeitreise durch die frühen Jahre des Bosnienkrieges dar. Tijan Sila erzählt, wie er als Kind durch die Ruinen der Stadt streift, um Überreste der Geflohenen und Gestorbenen zu sammeln und diese auf dem Schwarzmarkt gegen Essen zu tauschen. Zudem wird das Familienleben thematisiert: Obwohl der Autor in einer privilegierten Familie mit seinem jüngeren Bruder aufwächst, sind die familiären Verhältnisse alles andere als stabil. Der Vater, Professor für Bibliothekswissenschaften, zeigt sowohl Schüchternheit als auch Gewaltbereitschaft gegenüber seinen Kindern, während die Mutter, promoviert in Germanistik, zwar durchsetzungsstark, aber auch egozentrisch ist.

Wie kam die Lektüre bei uns an?

In „Radio Sarajevo“ erzählt Tijan Sila in der Ich-Perspektive von den Erlebnissen eines Jungen, wobei er eine Perspektive aufzeigt, die oft vernachlässigt wird: die Entwicklung vom Schockzustand der ersten Kriegsmonate hin zum Alltag im Krieg. Der Autor vermeidet sowohl eine Verharmlosung als auch eine übermässige Brutalisierung der Kriegserfahrungen, was uns ermöglicht hat, tief in die kindlichen Erinnerungen einzutauchen. Auch die Kombination von tragischen und humorvollen Elemente kam bei uns gut an. Der einfache, umgangssprachliche Schreibstil fördert das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein, und macht die komplexen sozialen und politischen Zusammenhänge nachvollziehbar. Besonders eindrücklich ist der Kontrast zwischen den kindlichen Sorgen und der brutalen Realität des Krieges, der uns mit der beschleunigten Entwicklung des Protagonisten konfrontiert. Insgesamt ermöglicht der Roman eine tiefere Reflexion über die Auswirkungen des Krieges auf das Leben der Menschen und das Erwachsenwerden unter extremen Bedingungen.

Inhalt: Chiara Perna, Irina Savicic, Liliane Werder, Lynn Kretz (4b); Bild entnommen aus: https://www.orellfuessli.ch/shop/home/artikeldetails/A1068364667